Warum es okay ist zu weinen...
Warum halten wir Tränen von anderen so schwer aus? Eigentlich ist es von Eltern gar nicht die Aufgabe, das Weinen ihrer Kinder so schnell wie möglich zu stoppen, sondern vielmehr es zu begleiten. Trotzdem haben wir das Bedürfnis danach, warum eigentlich?
Ein bedeutsamer Anteil ist, dass es bei uns, als wir noch Kinder waren, wahrscheinlich auch nicht anders lief. Ein weinendes Kind musste abgelenkt werden und ein weinendes Kind wurde auch nicht wirklich ernst genommen. Warum auch? Diese Erziehungstechniken wurden in der Regel nicht hinterfragt und intuitiv weitergegeben. Den Weg, das Weinen bedürfnisorientiert zu begleiten und Verständnis aufzubauen, ist ein Ansatz, den viele Eltern sich erst beibringen mussten, inklusive mir!
Es ist nicht deine Aufgabe, dein Kind vor jedem Gefühl des Unwohlseins zu bewahren, das ist unmöglich. Deine Aufgabe ist es, einfach nur da zu sein.
Weinen ist nicht umsonst laut
Das Weinen und Schreien hat eine extra durchdringende Frequenz, die es nahezu unmöglich macht, es zu ignorieren. Das aber nicht ohne Grund, denn sie soll die Dringlichkeit von Bedürfnissen verdeutlichen. Das Babyweinen hat eine Daseinsberechtigung, da es das einzige Kommunikationsmittel ist, das sie haben. Deshalb spüren wir auch enormen Stress. Insbesondere Kleinkinder brauchen eine angemessene Unterstützung und eine intensive Begleitung der Emotionen, weil sie noch große Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle in Worte zu fassen und ihre Emotionen zu regulieren. Bei sehr großen Anfällen können wir es uns so vorstellen, dass bei unserem Kind in dem Moment eine Flut von Gefühlen überhand nehmen und sie vorübergehend die Kontrolle über ihr Verhalten verlieren. Gerade die Begleitung dieser großen Gefühlsstürme gehört mit zu den größten Herausforderung im Alltag von Eltern.
Während im Babyalter die Bedürfnisse sich noch im Rahmen befinden (Hunger, volle Windel, Nähe & Schlaf) wird es im Kleinkindalter schon umfangreicher. Und ich weiß bis heute nicht immer, was mein Kind so aufgeregt hat, manchmal kommt es wie aus dem Nichts, was es für mich noch schwieriger macht, die Ruhe zu behalten.
Wenn wir etwas nicht gut aushalten können, hat es viel mit uns selbst zutun. Wenn wir keine Verbindung zu unseren eigenen Gefühlen haben, wie zum Beispiel unsere Trauer oder unsere Wut, dann können wir sehr schwer Verständnis für die der anderen aufbringen. Wurde uns das Gefühl gegeben, dass wir anstrengend sind oder es falsch ist zu weinen oder wütend zu sein, etwa eben, weil es so schnell wie möglich gestoppt werden musste oder erst gar kein Verständnis aufgebracht, sondern heruntergespielt wurde, so lernen wir nicht den angemessen Umgang mit unseren eigenen Emotionen. Deshalb fühlen wir uns letztendlich auch überfordert oder sogar hilflos, wenn wir sie spüren oder bei anderen wahrnehmen und greifen oft intuitiv auf das zurück, was wir selbst kennen: Stoppen, nicht allzu ernst nehmen, wird schon, weitermachen! Wie gut das funktioniert, bezweifle ich aufgrund aktueller Studienlage sehr, weshalb ich es total wichtig finde, das Weinen zu normalisieren. Es ist total okay traurig zu sein, es ist total okay weinen zu wollen. Es müssen nicht alle die Situation zu 100% verstehen, aber es ist okay, wenn DIR es gerade viel aus macht - egal ob als Kind oder erwachsene Person. Weinen ist ein Ausdruck einer Flut von Gefühlen und nicht umsonst fühlen wir uns nach dem Weinen leichter oder als „hätte es mal raus gemusst”. Selbst ich merke heute noch, wie gut es tut, einfach mal zu weinen!
Die widerlegte Annahme
Wovor alle Eltern (jaaaa, auch ich) große Angst haben, ist, dass das Kind lernt mit Weinen Zuwendung zu erhalten und dieses Wissen als Mittel zum Zweck verwendet. Das beruht auf dem Konzept, dass Verhalten, welches verstärkt wird (z.B. durch Aufmerksamkeit oder Zuwendung) öfter gezeigt wird, als Verhalten welches nicht verstärkt wird (z.B. durchs Ignorieren) und gelöscht wird, also nicht mehr gezeigt wird, da es vom Kind nicht den erwünschten Effekt erzielt. Die Beziehung von Eltern und Kind und vor allem die Funktion des Weinens ist jedoch komplexer. Nur mithilfe ihrer Bezugspersonen (=Fremdregulation) können sie ihr Innenleben und ihre Emotionen verstehen und den angemessenen Umgang erlernen (=Selbstregulation). Ich möchte auch immer wieder ans Herz legen, sich als erwachsene Person daran zu erinnern, dass Kinder nicht mit der Fähigkeit auf die Welt kommen ihre Gefühle zu regulieren. Sie sind darauf angewiesen, durch Bezugspersonen Strategien zu entwickeln, unangenehme Zustände sowie Emotionen zu verstehen und sie regulieren zu lernen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Bezugsperson Verständnis aufbauen kann und angemessene Strategien kennt, was nicht einfach ist, wenn sie dies in der eigenen Erziehung nicht erfahren hat. Und so schließt sich meistens auch der Kreis, der sich lohnt zu durchbrechen. Ich sage immer ganz gerne:
Wenn du mit deiner Erziehungsweise das schwarze Schaf in deiner Familie bist, unterbrichst du wahrscheinlich gerade den generationsübergreifenden Kreislauf.
Entwicklungspsycholog:innen fanden nämlich heraus, dass Babys die Mütter hatten, die angemessen aufs Weinen ihrer Kinder reagierten, in Zukunft deutlich weniger weinten. Aktuelle Forschungen zeigen auch, dass wir die Emotionen unserer Kinder besser verstehen und begleiten können, wenn wir einen Zugang zu unseren eigenen Gefühlen und Empfindungen des Körpers haben. Gefühlsregulation, statt Gefühlsunterdrückung ist eine ganz wertvolle Kompetenz und Voraussetzung für das Heranwachsen eines psychisch starken Kindes. Auch wenn das gerne als Synonym verwendet wird, ist die Regulierung doch nochmal ein anderer Prozess als die Unterdrückung.
Alternative Sätze
Mir fällt es auch extrem schwer Verständnis zu zeigen und mitfühlend zu sein, wenn ich im Kopf eigentlich denke, dass die Reaktion des Weinens gerade viel zu übertrieben für den Auslöser und die Situation ist. Ich versuche auch bewusst mir die Standardsätze die mir in den Sinn kommen und das traurige Kind eher ablehnen, als zu trösten, nicht zu sagen. Stattdessen versuche ich mich an meinen alternativen Sätzen zu bedienen, aber auch das musste ich üben. Nein, es ist nicht intuitiv in jedem Menschen drin, dem eigenen Kind angemessen Trost spenden zu können, was in jedem Menschen intuitiv drin ist, ist die Prägung der eigenen Erziehung.
Statt: Nun stell dich nicht so an. Hör jetzt auf zu weinen. Hab dich nicht so. Mach nicht so einen Aufstand. Ist doch nicht so schlimm.
Können wir sagen: Du möchtest gerne länger spielen und noch nicht ins Bett gehen. Ich kann verstehen, dass dich das traurig macht, das hat ja auch so Spaß gemacht! (Und wenn dein Baby etwas älter ist: Jetzt ist Schlafenszeit. Du kannst dir aussuchen, möchtest du deinen Blumen Pyjama oder den mit den Bienen drauf?)
Generell ist es gut, den Fokus auf etwas anderes zu richten, in dem dein Kind wieder etwas bestimmen kann: Wollen wir gemeinsam vor dem Schlafengehen noch ein Buch lesen oder zusammen kuscheln? Morgen kannst du nach dem Aufstehen weiterspielen!
Was du damit vermittelst: Ich sehe, dass du traurig bist, ich möchte dich verstehen und dir helfen, damit umzugehen. Ich bin für dich da und liebe dich so wie du bist.
Wie können wir also angemessen auf große Emotionen reagieren?
Wir spiegeln die Gefühle unseres Kindes und geben gleichzeitig eine Form von Sicherheit zurück. Spiegeln bedeutet in dem Sinne, dass wir die Emotionen unseres Kindes und die Zusammenhänge in der Situation verstehen und benennen können. Das zeigen wir in dem wir die Situation beschreiben. Sicherheit geben wir, indem wir ruhig reden und wenn es die Möglichkeit gibt, können wir auch Perspektiven anbieten. Kinder verstehen nämlich nicht, wieso ihre Wünsche nicht jetzt erfüllt werden können und sind in der Denkweise noch sehr unflexibel und können sich andere Perspektiven nicht vorstellen. Im Gesamten können wir so zeigen, dass wir die Reaktion unseres Kindes aushalten können, was als „Andere sind für mich da, ich bin okay so wie ich bin“ verinnerlicht werden kann.
Hier möchte ich noch betonen, dass Eltern keinesfalls perfekt sein müssen und auch nicht alles durchgehen lassen müssen. Es ist völlig normal, wenn Eltern die Signale ihrer Kinder auch mal falsch interpretieren, zu spät reagieren oder auch einfach keine Kraft mehr haben. Letztendlich hat dein Kind in solchen Situationen auch die Chance zu schauen, inwieweit es sich vielleicht sogar schon selbst regulieren kann. Das Weinen zu begleiten, heißt nicht, dass es keine Grenzen gibt. Weinen begleiten heißt auch nicht, dass Eltern sich komplett aufopfern müssen und nur für ihre Kinder leben sollten. Weinen begleiten heißt, dass wir bereit sind da zu sein, Verständnis zu zeigen, die Emotionen zulassen können und als erwachsene Person nicht besser beurteilen können, dass es gerade nicht so schlimm ist. Dazu gehört nicht immer, dass dein Kind aufhört zu weinen. Wenn wir das Weinen begleiten, sehen wir unsere Kinder mit den Gefühlen die sie haben an, sehen die Kommunikation hinter der Reaktion, das Bedürfnis hinter der Emotion und können darauf angemessen eingehen.
In unserem Beitrag zu Wut gibt es eine ausführliche Anleitung, wie wir auch diese begleiten können!
Quellen:
Harms, T. (2018). Keine Angst vor Babytränen. Psychosozial, Gießen.
Imlau, N. (2020). Mein Familienkompass: Was brauch ich und was brauchst du?. Ullstein Buchverlage.
Shafer, A. E., Wanless, S. B., & Briggs, J. O. (2022). Toddler teachers' responses to tantrums and relations to successful resolutions. Infant and Child Development, 31(3).