Autonomiephase! Was sie bedeutet und wie Eltern sie überstehen.
Früher hieß es noch Trotzphase, heute sagen wir lieber Autonomiephase. Dieser Begriff gefällt mir persönlich viel besser, weil er deutlicher beschreibt, was in diesem Entwicklungsschritt eigentlich passiert und warum dieser so wichtig ist.
Autonomie bedeutet so viel wie Selbstbestimmung oder das Streben nach Entscheidungsfreiheit und ist ein menschliches Grundbedürfnis. Bereits hier könnt ihr erahnen, wie wichtig die Autonomiephase für Kinder ist. Denn in dieser Phase entwickeln sie ein Ich-Bewusstsein und lernen, eigenständiger zu werden und das Gefühl zu erproben, selbst etwas bewirken zu können. Besonders hilfreich ist es, wenn Eltern ihre Kinder mit ihren Gefühlen ernst nehmen und ihnen zutrauen, altersangemessene Aufgaben zu erledigen.
Die Autonomiephase, die jeder durchlebt
Die Autonomiephase konnte über alle Kulturen hinweg beobachtet werden. Sie geschieht fast immer zu einer ähnlichen Zeit und vor allem die Wut scheint hierbei eine große Rolle zu spielen. Die Autonomiephase ist also weder ein Zeichen einer Verhaltensstörung noch ein Hinweis auf Erziehungsfehler. Sie verläuft jedoch bei jedem Kind anders ab. Bei den einen ist sie herausfordernder als bei den anderen. Auch wenn sich nichts daran ändern lässt, dass jedes Kind diesen Entwicklungsschritt erleben wird, können Eltern durchaus ihre Haltung sowie Verhalten beeinflussen und entscheiden, wie sie unterschiedliche Situationen meistern möchten. Das wiederum hat dann einen Einfluss darauf, wie das Kind mit diesem Entwicklungsschritt umgeht und welche Strategien es für die Zukunft verinnerlicht.
Warum ist die Frustration in dieser Phase so groß?
Es gibt viele Theorien dazu. Trotz Autonomiestreben, also dem Wunsch, eigenständiger zu werden und etwas bewirken zu können, spüren Kinder hier deutlich, in was für einer Abhängigkeit sie sich gleichzeitig befinden. Grob gesagt, ist es auch echt nicht einfach, etwas unbedingt machen zu wollen und dann zu erkennen, dass man es selbst noch nicht wirklich kann und dafür eigentlich noch Hilfe von außen braucht. Außerdem spüren Kinder in dieser Phase einen Willen, aber ohne Perspektiven. Es ist also noch nicht verständlich für sie, warum sie Dinge nicht einfach sofort haben können, denn ihr Gehirn reift noch. Dazu haben sie dann auch noch nicht mal die Möglichkeiten, ihre Enttäuschung in Worte auszudrücken, weshalb ihnen oft nur der körperliche Ausdruck übrig bleibt. Das sieht dann so aus, dass sie sich beispielsweise auf den Boden schmeißen oder wild um sich schlagen, wenn sie verzweifelt und frustriert sind.
Oh ja, wie dramatisch das aussieht! Während die Gefühlsausbrüche zuvor noch schneller zu zähmen waren, ist das ungefähr im 2. Lebensjahr zunehmend nicht mehr so leicht. Eltern kommen an ihre Grenzen und haben das Gefühl: Das ist unmöglich, ich kann nicht mehr! Gefühlsausbrüche des Kindes fühlen sich plötzlich an wie ein Tauziehen und die Kräfte des Kindes sind plötzlich um einiges größer als zuvor. Stellt euch gerne bildlich vor, dass ihr nicht mit eurem Kind in einen Machtkampf gehen müsst, wo einer verliert oder gewinnt, sondern zusammen an EINEM Strang ziehen könnt! Probiert es gerne einmal im Alltag aus.
Tipps zum Umgang
Sobald wir über Emotionen sprechen, muss Folgendes verdeutlicht werden: Es geht nicht darum, sie so schnell wie möglich „weg zu machen”, sondern den angemessenen Umgang mit ihnen zu erlernen. Wir wollen bestmöglich helfen, die Emotionen unserer Kinder zu regulieren und nicht zu unterdrücken. Das schaffen Eltern am besten, wenn sie verstehen, wie die kindliche Entwicklung verläuft, sie versuchen Verständnis aufzubauen und regelmäßig an eigenen Bedürfnissen und auch Triggerpunkten arbeiten. Vielleicht geht das nicht alles auf einmal und auch nicht von heute auf morgen, aber mit Babysteps! Kinder sollten lernen, wie sie mit ihren Emotionen umgehen können, statt sich zu wünschen, sie nicht zu haben. Hier gibt es jetzt kein Allheilmittel, aber Tipps für eine für dich und dein Kind förderliche Haltung, die du während der Autonomiephase einnehmen kannst:
Es ist okay, wenn dein Kind nein sagt
Ja, es kann unglaublich nervig sein, aber ein Kind hat das Recht, „Nein” zu sagen, nicht kooperieren zu wollen oder sich zu widersetzen. Eltern sollten diese Reaktion auf keinen Fall persönlich nehmen. Kinder sollen in kürzester Zeit alles Lernen und sich anpassen, da ist es völlig verständlich, dass in ihnen eine Frustration wächst, die dann aber auch wieder nachlassen darf. Wichtig hierbei ist zu verstehen, dass Kinder nichts tun, weil sie anderen schaden wollen, schon gar nicht dir, sondern sich so verhalten, wie es für sie in dem Moment am meisten Sinn macht. Die Wut richtet sich also nicht an eine Person, sondern an die Situation! Kinder sind auch nur Menschen mit einem eigenen Willen und Vorstellungen. Sie sind zwar noch sehr Ich-bezogen, das heißt, sie verstehen noch nicht, weshalb andere sagen, dass sie etwas nicht so machen können, aber in der Regel wollen sie mitwirken und sich am Alltag beteiligen.
Erlaube dir und deinem Kind einen eigenen Raum zu entwickeln
Vom Säuglingsalter zum Kleinkindalter passiert unglaublich viel. Diese Entwicklung fordert Eltern und Kind darin zu lernen, loszulassen und sich weiterzuentwickeln. In dieser Phase brauchen Kinder, wie in jeder anderen auch, emotionale Zuwendung. Gesunde Kinder entwickeln den Willen, allmählich Dinge selber machen zu wollen, sie erfahren so ein Selbstwertgefühl beim Erforschen der Welt. Das funktioniert nur, wenn Eltern ihren Kindern auch erlauben, einen eigenen Raum zu entwickeln, in dem sie Fehler machen dürfen, von denen sie wiederum lernen können. Erlebt das Kind auf der anderen Seite eher, dass das eigene Leben komplett von außen bestimmt wird, entwickeln sich Selbstzweifel. Hier entsteht also langsam ein Ich-Bewusstsein, was viel Raum und Verständnis braucht, um sich zu entwickeln.
Grenzen setzen, aber Kontrolle gewähren
Regeln und Grenzen sind wichtig, um das Kind zu schützen. Wie lassen sie sich mit dem Bedürfnis nach Autonomie des Kindes vereinen? In der Autonomiephase streben Kinder nach Kontrolle. Wie können wir das trotz Grenzen geben? Dafür lohnt es sich anzuschauen, was genau einem Menschen das Gefühl von Kontrolle gibt. Es gibt dazu drei Komponenten: Vorhersehbarkeit, Beeinflussbarkeit und Erklärbarkeit. Beim Umgang mit deinem Kind kannst du wie folgt vorgehen:
1. Vorhersehbarkeit sichern: Grenzen werden konsequent durchgesetzt (sofern sie natürlich für eure Familie Sinn machen). So weiß dein Kind immer, was es von dir erwarten kann (= Nach dem Frühstück putzen wir immer unsere Zähne!). Generell hilft es Kindern total, wenn Abläufe des Tages immer und immer wieder wiederholt werden, sodass sie wissen, was als Nächstes passiert! Schenke deinem Kind so viel Vorhersehbarkeit im Alltag durch Routinen und wiederholende Abläufe, wie es nur geht.
2. Beeinflussbarkeit: Gib deinem Kind im Rahmen der Grenzen eine Entscheidungsmöglichkeit (= Wir können jetzt nicht auf den Spielplatz, möchtest du drin etwas malen oder wollen wir auf dem Balkon die Pflanzen gießen?). Dabei reicht es vollkommen, wenn zwischen zwei Möglichkeiten entschieden werden kann, alles andere überfordert eher. Oder frage dein Kind doch mal, was für eine Idee es hat, wie man mit der Situation umgehen könnte? Plane für solche Situationen auf jeden Fall genug Zeit ein. Lass dein Kind, wenn es möglich ist, das eigene Leben so oft wie möglich mitgestalten!
Ich habe früh damit angefangen, am Morgen schon viele Auswahlmöglichkeiten in unsere Routinen einzuführen, sodass die Entscheidungen mittlerweile ganz schnell fallen. Das fängt an mit: Soll ich dich aus dem Bett tragen oder willst du selber rauskrabbeln?
Möchtest du Müsli oder Brot zum Frühstück? Zähne oben im Bad putzen oder hier unten in der Küche? Die gelbe oder die grüne Jacke?
Das sind Entscheidungen, die heute in Sekunden gefällt werden, da wir sie fest in unsere Routine eingeführt haben. Sie lassen das Kind aber wahnsinnig viel Freiraum und Kontrolle verspüren, sodass es deutlich kooperationsfähiger wird, wenn die Eltern Entscheidungen übernehmen müssen, wann sie aus dem Haus sein müssen.
3. Erklärbarkeit: Gehe auf Augenhöhe und erkläre deinem Kind, was gerade passiert (= Ich verstehe, dass du wütend bist, weil du möchtest, dass ich mit dir weiter spiele. Jetzt ist aber Essenszeit und ich habe echt Hunger, deshalb werde ich mich jetzt an den Tisch setzen und essen. Danach können wir gerne zusammen ein Buch lesen!). Vor allem innere Zustände können Kinder schwer erfassen. Da kannst du gerne helfen, bis dein Kind diese Kompetenz selbst entwickelt!
Die Wut begleiten
Gespräche über Emotionen können öfter in den Alltag integriert werden! Was war eigentlich der Auslöser für den Wutausbruch? In einem ruhigen Moment sind Kinder deutlich aufnahmefähiger als mitten in einem Wutanfall. Denn dann brauchen Kinder eher das Gefühl, verstanden zu werden und dass sie okay sind, so wie sie sind (auch, wenn das Verhalten es nicht ist). Versuch dran zu denken, dass es nicht deine Wut ist, sondern die deines Kindes. Es bringt euch beiden nichts, wenn du jetzt auch noch wütend und hilflos bist. Je besser die Eltern und Bezugspersonen die Gefühle des Kindes aushalten und regulieren können, desto besser lernt es, die eigenen Emotionen zu verstehen, zuzuordnen und dann selbst regulieren zu können. Kinder, die ihre eigene Gefühlswelt kennen, können sich im Laufe der Zeit besser in andere hineinversetzen. Mehr zum Umgang mit der kindlichen Wut findest du hier.
Das wichtigste in der Autonomiephase ist, dass Kinder nach ihrem Wutanfall immer noch eine feinfühlige Bezugsperson haben, auf die sie sich verlassen können, dass sie da ist. Denn nach einem Gefühlssturm fragt sich ein Kind immer: Werde ich noch geliebt? Bin ich noch liebenswert?
Letztendlich hilft es auch, sich auf die positiven Seiten dieses Entwicklungsschrittes zu konzentrieren. Statt zu denken, wie trotzig das eigene Kind doch schon wieder ist, können neue Gedankengänge, die sich darauf beziehen, wie faszinierend es ist, dass das eigene Kind jetzt lernt eigene Bedürfnisse und Grenzen zu spüren sowie sich dafür einzusetzen und wie hilfreich das für das Erwachsenwerden sein wird, deutlich angenehmer sein!
Quellen:
Frey, D. (2016). Psychologie der Werte. Springer Berlin Heidelberg.
Renz-Polster, H. (2009). Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt. Kösel.